geboren 1940 in Solingen, gestorben 2009 in Wuppertal, erhält ihre Tanzausbildung an der Essener Folkwang-Hochschule unter Leitung von Kurt Jooss. Hier erlernt sie eine exzellente Tanztechnik. Als der Wuppertaler Intendant Arno Wüstenhöfer sie zur Spielzeit 1973/74 als Choreographin verpflichtet, benennt sie das Ensemble schon bald in Tanztheater Wuppertal um. Unter diesem Namen erlangt die Kompanie, obwohl anfänglich umstritten, mit den Jahren Weltgeltung. Ihre Verknüpfung von poetischen und Alltagselementen beeinflusst entscheidend die internationale Tanzentwicklung. Weltweit mit den höchsten Preisen und Ehrungen ausgezeichnet, zählt Pina Bausch zu den bedeutendsten Choreographinnen der Gegenwart.
Tanzend vom Menschen sprechen
Als Philippine Bausch wird sie 1940 in Solingen geboren; unter ihrem Kosenamen Pina wird sie vom nahe gelegenen Wuppertal aus mit ihrem Tanztheater später Weltgeltung erlangen. Die Eltern betreiben in Solingen eine Gastwirtschaft mit angeschlossenem Hotelbetrieb, in dem Pina, ebenso wie ihre Geschwister, mithilft. Sie lernt, Menschen zu beobachten, vor allem, was Menschen im tiefsten Grund bewegt. In ihren späteren Stücken scheint etwas von dieser frühen Kindheitsatmosphäre anzuklingen: eine Musik erklingt, Menschen kommen und gehen, erzählen von ihrer Sehnsucht nach dem Glück. Aber auch die frühe Erfahrung des Krieges wird sich in den Stücken widerspiegeln, als plötzlicher Ausbruch von Panik, als Angst vor einer namenlosen Gefahr.
Nach ersten Erfahrungen im Solinger Kinderballett beginnt Pina Bausch im Alter von 14 Jahren ihre Tanzausbildung an der Essener Folkwang Hochschule unter Kurt Jooss. Jooss ist ein bedeutender Vertreter der deutschen Tanzmoderne vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich von den Fesseln des klassischen Balletts befreite. In seiner Pädagogik jedoch versöhnt er den Freiheitsgeist der Tanzrevolutionäre mit den Grundregeln des Balletts. So erlernt die junge Tanzstudentin das Betreten kreativer Freiräume ebenso wie das Beherrschen einer klaren Form. Wichtig ist die Nachbarschaft zu anderen Künsten, die ebenfalls an der Folkwang-Hochschule gelehrt werden: zu Oper, Musik, Schauspiel, Bildhauerei, Malerei, Fotografie, Design u.v.m. Sie wird als völlige Offenheit in der Wahl der Mittel in ihrer Arbeit als Choreographin wiederkehren.
1958 wird sie mit dem Folkwang-Leistungspreis ausgezeichnet und geht, ausgestattet mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, für ein Jahr als Special Student an die Juilliard School of Music nach New York. Die Stadt gilt als Mekka des Tanzes, in der sich, durch George Balanchine, die Erneuerung des klassischen Balletts ebenso vollzieht wie die Weiterentwicklung der Tanzmoderne. Zu Pina Bauschs Lehrern gehören u.a. Antony Tudor, José Limón, Tänzer der Kompanie von Martha Graham, Alfredo Corvino, Margret Craske. Als Tänzerin arbeitet sie mit Paul Taylor, Paul Sanasardo und Donya Feuer. Wann immer möglich besucht sie Vorstellungen, nimmt alle Strömungen in sich auf. Begeistert von der Vielfalt des künstlerischen Lebens in New York verlängert sie ihren Aufenthalt um ein weiteres Jahr; diesmal jedoch muss sie ihren Unterhalt selbst finanzieren. Antony Tudor engagiert sie an die Metropolitan Opera. Die Nähe zur Oper, der Respekt vor der Musiktradition wird in ihrem späteren Werk ebenso eine Rolle spielen wie etwa die Liebe zum Jazz. Die in Deutschland noch strenge Unterscheidung zwischen sogenannter "ernster" und "unterhaltender" Musik wird für sie keine Rolle spielen. Jede Musik, sofern sie tiefe Gefühle ausdrückt, hat den gleichen Wert.
Nach zwei Jahren bittet Kurt Jooss sie, nach Essen zurückzukehren. Es ist ihm gelungen, das Folkwang-Ballett, das spätere Folkwang-Tanzstudio, wieder zu beleben. Pina Bausch tanzt in älteren und neuen Werken von Jooss, steht ihm auch choreographisch in seiner Arbeit zur Seite. Da es an genügend Stücken für das Folkwang-Tanzstudio fehlt, beginnt sie selbst zu choreographieren, entwickelt Stücke wie "Fragment" oder "Im Wind der Zeit", für das sie beim Choreographischen Wettbewerb in Köln 1969 mit dem ersten Preis ausgezeichnet wird. Als Gast choreographiert sie erste Arbeiten für Wuppertal, die mit Mitgliedern des Folkwang-Tanzstudios aufgeführt werden: "Aktionen für Tänzer" 1971 und das "Tannhäuser-Bacchanal" 1972. Zur Spielzeit 1973/74 engagiert sie der Wuppertaler Intendant Arno Wüstenhöfer als Leiterin des Wuppertaler Balletts, das sie schnell in Tanztheater umbenennt. Die Bezeichnung, schon in den 1920er Jahren von Rudolf von Laban entwickelt, ist Programm. Sie steht für eine Abkopplung von bloßer tänzerischer Routine und eine völlige Freiheit in der Wahl der Ausdrucksmittel. In schneller Folge entwickelt Pina Bausch neue Genres. Mit den beiden Gluck-Opern "Iphigenie auf Tauris" (1974) und "Orpheus und Eurydike" (1975) erarbeitet sie erstmals zwei Tanzopern. In "Ich bring dich um die Ecke..." (1974) betritt sie die Trivialwelt der Schlager, "Komm, tanz mit mir" verwendet alte Volkslieder, "Renate wandert aus" (beide 1977) spielt mit Klischees der Operette. Zu einem Meilenstein wird ihre Choreographie von Igor Strawinskys "Le Sacre du printemps" (1975). Die emotionale Wucht und physische Unmittelbarkeit dieses Stückes werden zu Kennzeichen ihrer Arbeit. Von Kurt Jooss hat sie "Ehrlichkeit und Genauigkeit" gelernt. Beide Tugenden versteht die Choreographin für eine dramatische Durchschlagkraft zu nutzen, die bis dahin unbekannt war. Das führt in den ersten Wuppertaler Jahren zu Verstörungen bei Presse und Publikum. Die Konfrontation mit den wahren Beweggründen der Bewegungen schmerzt. Die Trauer und Verlorenheit in "Blaubart - Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Bela Bartóks Oper ´Herzog Blaubarts Burg`" (1977), bei dem Passagen der Musik wieder und wieder repetiert werden, empfinden viele als Folter. Doch von Anfang an beweist Pina Bausch neben dem Talent zur Dramatik auch Humor, wofür der Brecht/Weill-Doppelabend mit "Die sieben Todsünden" und "Fürchtet Euch nicht" von 1976 steht. Im zweiten, frei collagierten Teil treten auch die Männer in Frauenkleidern auf, spielt die Choreographin mit eingefleischten Rollenklischees, ebenso unterhaltsam wie amüsant.
1978 verändert Pina Bausch ihre Arbeitsweise. Vom Bochumer Regisseur Peter Zadek eingeladen, ihre Version von Shakespeares Macbeth zu erarbeiten, findet sich die Choreographin in einer Not. Ein großer Teil des eigenen Ensembles mag ihrer Arbeit, in der wenig konventionell getanzt wird, nicht weiter folgen. Also besetzt sie die Bochumer Auftragsinszenierung mit nur vier Tänzern, fünf Schauspielern und einer Sängerin. Mit choreographiertem Schrittmaterial kann sie in dieser Besetzung nicht arbeiten; also beginnt sie, ihren Darstellern assoziative Fragen rund um das Thema des Stücks zu stellen. Das Ergebnis dieser gemeinsamen Suche, das unter dem langen Titel "Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloss, die andern folgen" am 22. April 1978 in Bochum uraufgeführt wird, geht beinahe im Proteststurm der Zuschauer unter. Doch Pina Bausch hat mit diesem ungewöhnlichen Schritt endgültig ihre Arbeitsform gefunden, deren traumhafte, poetische Bilder- und Bewegungssprache ihren rasch einsetzenden weltweiten Erfolg begründet. Mit seinem Ansetzen bei den elementaren menschlichen Gefühlen, bei den Ängsten und Nöten ebenso wie bei den Wünschen und Sehnsüchten, wird das Tanztheater Wuppertal nicht nur in der ganzen Welt verstanden, es löst auch eine internationale choreographische Revolution aus. Das Geheimnis dieses Erfolges mag darin liegen, dass das Tanztheater der Pina Bausch einen unverstellten Blick auf die Realität riskiert und zugleich zum Träumen einlädt. Es nimmt den Zuschauer in seinem Alltagsleben ernst und bestärkt zu gleich seine Hoffnung, dass alles sich zum Guten wenden kann. Dafür allerdings ist er selbst aufgerufen, die Verantwortung zu übernehmen. Die Männer und Frauen in den Stücken der Pina Bausch können nur mit aller Genauigkeit und Ehrlichkeit erproben, was einen jeden dem Glück näher bringt und was ihn davon entfernt; Patentrezepte liefern sie nicht. Aber immer entlassen sie ihr Publikum in der Gewissheit, dass - bei allen Höhen und Tiefen - das Leben bestanden werden kann. Im Januar 1980 stirbt Pina Bauschs langjähriger Lebensgefährte Rolf Borzik. Er hat in den Anfangsjahren mit seinen Bühnenbildern und Kostümen wesentlich das Gesicht des Tanztheaters geprägt. Nach seinem Tod übernehmen Peter Pabst (Bühne) und Marion Cito (Kostüme) seine Arbeit. Es sind poetische Räume, in denen nicht selten das Außen nach innen wandert und die Bühne zur Landschaft ausweitet. Es sind physische Räume, die die Bewegungen verändern. Wasser und Regen lassen die Körper durch die Kleidung scheinen; Erde macht jede Bewegung zum Kraftakt; Laub zeichnet die Schritte der Tänzer als Spuren auf. Vom Altbauzimmer bis zum kargen Holzboden von japanischer Strenge reicht die Variationsbreite dieser Räume. Die Kostüme können ebenso elegant wie skurril sein - von der großen Abendrobe bis zur kindlichen Lust an der Verkleidung. Wie die Stücke spiegeln Bühne und Kostüme den Alltag und überschreiten ihn doch immer wieder in Richtung einer traumhaften Schönheit und Leichtigkeit. Was in den Anfängen noch gerne übersehen wird: der Humor und die Schönheit, auch wenn sie im scheinbar Hässlichen liegt, wird im Laufe der Jahre immer besser verstanden. Allmählich wird klar, worum es dem Tanztheater geht: nicht um Provokation, sondern - mit Pina Bauschs Worten - "um etwas, in dem wir uns treffen können".
International wie sich das Tanztheater entwickelt, entstehen zahlreiche Koproduktionen: "Viktor", "Palermo Palermo" und "O Dido" in Zusammenarbeit mit Italien, "Tanzabend II" mit Madrid, "Ein Trauerspiel mit Wien", "Nur Du" mit Los Angeles, "Der Fensterputzer" mit Hongkong, "Masurca Fogo" mit Lissabon, "Wiesenland" mit Budapest, "Água" mit Brasilien, "Nefés" mit Istanbul, "Ten Chi" mit Tokio, "Rough Cut" mit Seoul, "Bamboo Blues" mit Indien und als letztes das neue Stück 2009 als Koproduktion mit Chile, dem Pina Bausch selbst keinen Titel mehr geben kann. Die anfänglich so umstrittene Arbeit hat sich endgültig zu einem Welttheater entwickelt, das alle kulturellen Färbungen in sich aufnehmen kann und jeden Menschen mit dem gleichen Respekt behandelt. Es ist kein Theater, das belehren will, sondern das eine elementare Erfahrung des Lebens herstellen will, die jeder Zuschauer eingeladen ist, mit den Tänzerinnen und Tänzern zu teilen. Großzügig ist dieses Welttheater, gelassen in der Weltwahrnehmung und äußerst charmant im Umgang mit seinem Publikum. Es bietet ihm an, sich mit dem Leben auszusöhnen und auf den eigenen Lebensmut und die eigene Kraft zu vertrauen. Als Vermittler zwischen den Kulturen ist es ein Botschafter des Friedens und des gegenseitigen Verständnisses. Es ist ein Theater, das sich frei hält von jeglicher Ideologie und Dogmatik, das so vorurteilsfrei wie möglich die Welt anschaut und das Leben zur Kenntnis nimmt - in all seinen Facetten. Aus den Fundstücken jener Reise, die mit jedem Stück neu beginnt, aus den vielen kleinen Szenen und - mit den Jahren immer mehr - den zahllosen Tänzen fügt sich ein Weltbild von großer Komplexität, voller überraschender Wendungen. Das Tanztheater Wuppertal fühlt sich nur einem verpflichtet: dem Menschen und damit einem Humanismus, der keine Grenzen kennt.
Für ihre Arbeit wird Pina Bausch mit zahlreichen Preisen und Ehrungen ausgezeichnet, u.a. mit dem Bessie Award in New York (1984), dem Deutschen Tanzpreis (1995), dem Theaterpreis Berlin (1997), dem Praemium Imperiale in Japan (1999), dem Nijinsky-Preis in Monte Carlo, der Goldenen Maske in Moskau (2005), dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt/Main (2008). Im Juni 2007 erhält sie für ihr Lebenswerk einen Goldenen Löwen der Biennale in Venedig, im November des gleichen Jahres den angesehenen Kyoto-Preis. Die deutsche Regierung ehrt sie mit dem Großen Verdienstkreuz (1997), die französische mit den Titeln Commandeur de l'Ordre des Arts et des Lettres (1991) und Ritter der Ehrenlegion (2003). Zahlreiche Universitäten verleihen ihr die Ehrendoktorwürde. Am 30. Juni 2009 endet Pina Bauschs Lebensreise. Ihr Werk zeichnet sie aus als eine der bedeutendsten Choreographinnen des 20. Jahrhunderts.
NORBERT SERVOS