In einem runden Gehäuse rotieren zwei gläserne Türflügel. Eine Frau, die von der Drehtür auf die dunkle Bühne gespült wird, huscht zwischen den leeren Stühlen hindurch, um rechts wieder zu verschwinden. Das ist der Anfang von „Café Müller“, einem Stück von Pina Bausch. Wenn es nach Boris Charmatz ginge, der seit August das Tanztheater Wuppertal leitet, dann dürfte dieses Stück niemals enden. Repertoire beginnt mit der Silbe „Re“. Sie steht für Wiederholung und Wiederkehr, in diesem Fall für Henry Purcells „Remember me“ und für „Revolving Door“ als einer Tür, die in ihrer kreisenden Endlosbewegung immer offen bleibt.
Marietta Piekenbrock: Für die Neueinstudierung kündigt Ihr drei Besetzungen an. Wie entwickelt man drei Besetzungen für ein Stück, das im Original mit sehr charismatischen Tänzerinnen und Tänzern besetzt war?
Boris Charmatz: Eine Bemerkung vorab: Ich habe „Café Müller“ nicht selbst ausgesucht. Wir sind in der ersten Saison meiner Intendanz, es ist ein Jahr des Übergangs. Fast das gesamte Programm war bereits vorgeplant. Ich liebe „Café Müller“, es ist ein Juwel. Aber ich hätte sicher eher ein Ensemblestück ausgesucht, um gleich zu Anfang mit möglichst vielen Tänzer:innen aus der Kompanie zusammenzuarbeiten. Pina Bausch hat „Café Müller“ mit sechs Tänzer:innnen entwickelt, das ist eine kleine Gruppe, eine Kammerspielbesetzung. Drei mal sechs macht achtzehn. Das sind immerhin schon achtzehn junge Tänzer:innen, die das Stück für sich entdecken können. Die Kompanie als lebendiges Kollektiv ist mir genauso wichtig wie das Repertoire von Pina Bausch. Deshalb proben wir „Café Müller“ in drei Besetzungen.
Wer sind diese Tänzer:innen, die Ihr für die Wiederaufnahme ausgewählt habt?
Es ist ein Mix. Es sind Tänzer:innen, die schon im Ensemble waren, als Gast oder fest, andere sind neu dazugekommen. Es gibt keine Hierarchie zwischen den Besetzungen, keine erste, zweite oder dritte Besetzung. Tänzer:innen, die neu in die Kompanie des Tanztheaters aufgenommen wurden, mussten bisher zwei, drei, vier oder sieben Jahre warten, bis sie zum ersten Mal mit „Café Müller“ in Berührung kamen. Das ist schade, weil man über „Café Müller“ sehr viel über die Stücke versteht, die danach entstanden sind. Sie kreisen alle stark um das Thema Begehren, desire, um Lust und Libido. Es geht nicht nur darum, herauszufinden, wer wie Pina Bausch, wie Dominique Mercy oder wie Nazareth Panadero tanzen kann. Diese Fragen nach Ähnlichkeitsbeziehungen interessieren mich nicht so. Zumal die Antworten immer traurig sind. Pina Bausch lebt nicht mehr. Dominique Mercy ist einzigartig.
Wenn man sich die frühen Aufzeichnungen von Ende der 1970er Jahre bis Anfang der 1980er Jahre ansieht, fällt auf, dass es in den Stücken aus dieser Zeit sehr stark um Beziehungsenergie geht, um Begehren und Nicht-Begehren. Es geht um die Zirkulation des Begehrens zwischen den Figuren. Darum, wie Malou und Dominique zueinander finden oder eben nicht zueinander finden. Wie Pina alles im Blick hat, obwohl sie die Augen geschlossen hält. Diese Energie des gegenseitigen Begehrens fasziniert mich. Als es um die Besetzung ging, habe ich mir vorgestellt, ich würde an einem Kinofilm arbeiten und versuchen Menschen zusammenbringen zwischen denen etwas passiert, zwischen denen Gefühle hin und herfliegen und die nicht nur technisch aufeinander reagieren. Das wirkt wie ein Detail. Doch schon auf den ersten Probenfotos von César Vayssié sieht man deutlich, dass „Café Müller“ eine pièce de désir ist.
Angekündigt ist die Premiere einer Neueinstudierung. Was bedeutet das genau? Ist es eine Reprise, eine Überschreibung, eine Einverleibung? Oder ist es eine Aneignung? Ich denke an „Flip book“, Deinen Meta-Cunningham?
Die Libido der Aneignung ist immer groß. Aber ich gehe sehr vorsichtig vor. Ich bin nicht gekommen, um zu sagen, „Hallo, ich bin Boris Charmatz und wir arbeiten jetzt an einer neuen Version von ‚Café Müller‘.“ Meine Ethik ist eine andere. Es ist eher so, dass ich beobachte, wie die Kompanie gewohnt ist zu arbeiten und wo ich in diesem Prozess meinen Platz finden könnte. Übergriffige, wuchtige Gesten wird es nicht geben. Ich habe zwar ein paar Setzungen vorgenommen. Zum Beispiel nur mit Tänzer:innen zu arbeiten, die die Rolle zum ersten Mal tanzen; oder parallel drei Besetzungen zu proben; oder die Entscheidung, wer welche Rolle tanzt, insbesondere die Entscheidung, wer die Rolle von Pina Bausch tanzt. Eine der drei Interpret:innen, die Kanadierin Taylor Drury, ist sehr jung. In der Vergangenheit wurde die Rolle mit einer eher reifen Tänzerin besetzt. Oder Naomi Brito, sie ist mit 25 Jahren unsere jüngste Tänzerin und eine Transfrau. Sie kommt aus Brasilien. Emma Barrowman, ebenfalls aus Kanada, ist unsere dritte Pina Bausch. Das nur als ein Beispiel dafür, wie wir mit der Frage umgehen, wer im Jahr 2023 die ideale Pina Bausch verkörpern könnte. Es geht eben nicht nur darum die sechs besten Tänzer:innen für „Cafe Müller“ auszusuchen, sondern gemeinsam ein Beziehungsmodell zu entwickeln.
Du bist Choreograf und Tänzer. War es nie eine Überlegung für Dich, in „Café Müller“ selbst auf der Bühne zu stehen?
Dazu gibt es eine schöne Geschichte. Salomon Bausch hat mich gefragt: Warum übernimmst Du nicht die Probenleitung? Und warum tanzt Du nicht selbst in „Café Müller“? Meine erste Reaktion war: „Nein, nein, unmöglich, das kommt nicht in Frage. Ich werde nicht selbst tanzen.“ Trotzdem bin ich ihm für diese Frage sehr dankbar. Sie war nicht nur großzügig, sie hat mich auch entlastet. Sie lässt zu, mich freier zu fühlen. Mit seiner Frage hat er mich gewissermaßen legitimiert, einen geistigen Raum aufzuspannen, in dem solche Überlegungen überhaupt möglich sind. Ich habe Werke von Isadora Duncan und Vaslav Nijinski, habe für Anne Teresa De Keersmaeker und Tino Sehgal getanzt. Es liegt also nahe, eines Tages auch für Pina Bausch zu tanzen. Das Stück ist hier zuletzt 2018 getanzt worden. Ich möchte, dass die aktuelle Version für mehrere Jahre im Repertoire bleibt, dass wir sie jede Saison wiederaufnehmen. Es gibt aber noch einen zweiten Grund, warum ich diese Frage aufgeschoben habe. Ich komme von außen dazu. Ich habe das Gefühl, diese Außenperspektive ist sehr wichtig für unsere Arbeit. Wenn man selbst tanzt, verlässt man seinen Beobachtungsposten. Als Probenleiter und Tänzer in einer Person verliert man den Abstand. Die Kompanie braucht im Moment eine klare künstlerische Leitung und keine Vermischung aller Funktionen. Vielleicht sehe ich das in einem Jahr anders, aber im Moment ist das mein Eindruck.
Es gibt Stücke von Dir, in denen Sound einen große Rolle spielt, in anderen sind es starke Stücke der Musikgeschichte. In „étrangler le temps“, eine freie Interpretation von „boléro 2“ von Odile Duboc ist es Maurice Ravel, in „10000 gestes“ Mozarts monumentales Requiem, in Deiner nächsten Kreation „Liberté Cathédrale“ wird unter anderem zu Orgelmusik getanzt. Was bedeutet die Musik des Barockkomponisten Henry Purcell für Dich?
Die Tänzer:innen meiner letzten Stücke haben alle noch die unterschiedlichen Musiken im Ohr und auf den Lippen. Dazu gehört übrigens auch die Musik von Purcell. In „infini“ summt Solène Wachter ganz am Ende eine Melodie aus „King Arthur“. In „Café Müller“ sind es die Frauenarien aus dem Maskenspiel „Fairy Queen“ und die Klagelieder aus der Oper „Dido und Aeneas“. Ich bin sehr glücklich mit dem Live-Orchester, dirigiert von Patrick Hahn und den wunderbaren Stimmen von Ralitsa Ralinova und Jóhann Kristinsson. Aber gleichzeitig steht für mich die Frage im Raum, ob sich nicht auch eine musikalische Leitung kollektivieren ließe? Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass die Tänzer:innen auf der Bühne zu singen beginnen. Dass alle gemeinsam Didos Klage summen. Wenn „Café Müller“ ein Juwel ist, dann liegt das auch an Purcell. Seine Arien haben einen starken Anteil an der Intensität. Ihre Schönheit, ihre Melancholie sind einzigartig, sie durchdringen alles was auf der Bühne passiert. Vielleicht sind Purcells Arien in Zukunft schon zu hören, wenn das Publikum langsam den Zuschauerraum betritt.
Seit dem Modern Dance ist der Name der Leiterin oder des Leiters meistens identisch mit dem Namen der Kompanie. Der Name verweist auf einen bestimmten Personalstil. Ich denke an Martha Graham, an Merce Cunningham, aber auch an William Forsythe. Das Tanztheater Pina Bausch unter der Leitung von Boris Charmatz – das ist eine hybride Situation. Wie ist es für Dich als Choreografen, mit einem Ensemble zu arbeiten, das den Namen einer anderen Choreografin im Titel trägt?
Den Begriff Hybrid finde ich gut. Ich treibe natürlich auch meine eigene Arbeit als Choreograf voran. Der Wechsel nach Wuppertal wird meinen Tanz verändern, schließlich bin ich in ständigem Dialog mit Pina Bausch, wie wir alle hier. Die Kompanie, das Publikum, die Presse, die Technik, die Verwaltung – der gesamte Organismus beschäftigt sich mit dem Repertoire, dem Gedächtnis der Körper und der Gegenwart ihrer Stücke. Auch Du, während wir hier miteinander sprechen. Wie gesagt, ich habe für viele Choreografen getanzt. Auch wenn ich jetzt nicht selbst in „Cafe Müller“ tanze, spüre ich eine enge Verbindung zwischen ihrer Arbeit und dem was ich bisher gemacht habe.
Als Du 2009 das Centre choréographique national de Rennes et de Bretagne übernommen hast, habt Ihr das Haus in ein Musée de la danse – Museum des Tanzes umbenannt und ein Projekt lanciert, das sich mit dem Tanzerbe der Moderne beschäftigt hat. Auch das war ein Hybrid, der die Idee eines Museums mit den Möglichkeiten der Bühne verschränkt hat.
Hast Du ähnliche Pläne für Wuppertal?
Das Musée de la danse war ein besonderes Projekt. Es war eine neue Institution, die wir von Grund auf entwickelt haben. Wir waren völlig frei. Das Tanztheater Wuppertal ist 50 Jahre alt. Das ist eine völlig andere Fragestellung. Auch ich bin 50 Jahre alt, auch ich habe eine Geschichte. Hier kommt jetzt viel zusammen, das Repertoire von Pina Bausch, von mir, von unserem Musée de la danse. In Montpellier tanze ich diesen Sommer „À bras-le-corps“. Das Stück wird jetzt im Januar dreißig Jahre alt. Es ist jünger als „Café Müller“, aber immerhin. Wie wir all diese Fäden zusammenbringen, welchen Typ Institution wir entwickeln, das wird sich in den nächsten Jahren zeigen.
Konflikte in Gemeinschaften und die sozialen und ästhetischen Umbrüche, die häufig damit einhergehen, sind für Dich eine wichtige Quellen für Gesten und Bewegungen. Die 1970er Jahre waren tanzgeschichtlich betrachtet eine wichtige Wechselzeit. Im Revolutionsjahr 1968 beginnt Pina Bausch, bisher Solistin des Essener Folkwang-Balletts, erste eigene Stücke zu entwickeln, im Jahr drauf wird sie die Nachfolgerin ihres Lehrers und Leiters der Tanzabteilung Kurt Jooss. 1973 stirbt der Klassizist John Cranko 45-jährig, Mary Wigman wird in Berlin zu Grabe getragen, im selben Jahr engagiert sie der Wuppertaler Intendant Arnold Wüstenhöfer als Leiterin des Wuppertaler Balletts, das sie schnell in Tanztheater umbenennt. Es waren Jahre, in denen nicht sicher auszumachen war, ob der Ausdruckstanz den Nimbus des Neuen verlieren und sich in Deutschland ein neuer Klassizismus durchsetzen würde. Mit Abstand überblickt man Geschichte besser. Es kam umgekehrt. Pina Bausch wird zur internationalen Kultfigur eines postmodernen Ausdrucksstils. Ist dieses historische Setting für die Neueinstudierung von Bedeutung? Wieviel Erinnerungskultur, wieviel Aufbruch erwartet uns?
Ursprünglich hatte ich mir tatsächlich vorgenommen, stärker mit dem Archiv, mit den Aufzeichnungen zu arbeiten. Aber ich lebe im Jetzt. Und ich stelle fest, meine Kraft und Energie haben ihren Fluchtpunkt in der Tatsache, dass ich nicht dabei war, dass ich nicht in der Kompanie getanzt habe. Meine Geschichte ist eine andere. Ich komme von Steve Paxton, Simone Forti, Trisha Brown oder Yvonne Rainer. Die deutsche Tanzgeschichte ist mir zwar vertraut, Susanne Linke, Reinhild Hoffmann, Pina Bausch. Mit Raimund Hoghe habe ich gearbeitet. Die deutsche Kultur und Sprache sind mir durchaus nahe. Aber was jetzt im Studio gebraucht wird, ist jemand, der von außen dazu kommt und eine jüngere Perspektive mitbringt. Als ich auf die Probebühne kam, hatte ich den Eindruck, dass das Team der Probenleiter:innen um Barbara Kaufmann, Héléna Pikon, Robert Sturm und Magali Caillet-Gajan sehr nah an dem arbeitet, was und wie die Tänzer:innen der Originalbesetzung tanzten, fühlten und dachten. Es ist nicht so, dass mich die musealen Aspekte nicht interessieren, aber im Moment konzentriere ich mich auf das, was aktuell passiert: Montagmorgen, es ist 11.00h, ich steige aus dem Zug Brüssel -Wuppertal, gehe direkt vom Bahnhof auf die Probebühne zu „Café Müller“, im Studio nebenan proben wir mein neues Stück „Liberté Cathédrale“ - das ist die Situation. Die Tänzer brauchen frischen Wind, sie brauchen jemanden, der die Fenster aufreißt und die Türen öffnet. Sie müssen spüren, dass sie 2023 tanzen, dass sie nicht Dominique Mercys Rolle tanzen, sondern ihre eigene. Ich will erkennen können, wie es Christopher Tandy an diesem Morgen geht. Das ist sein Leben, das ist mein Leben. Das muss auf der Bühne sichtbar werden. Was sagt uns das Stück heute? Warum bin ich hier? Darauf müssen wir Antworten finden. Am liebsten wäre mir, wenn in Zukunft alle „Café Müller“ tanzen würden. Das gesamte Tanztheater, das Publikum und ich selbst vielleicht auch irgendwann. Ich sehe das Stück als Labor.
Als Labor? Was meinst Du damit?
Die Premiere nächste Woche ist eine wichtige, aber nur eine erste Etappe. Ein erster Schritt. Ich lerne, ich beobachte, wir probieren, wir experimentieren mit unterschiedlichen Besetzungen. Nochmal: Ich weiß nicht, ob ich mir „Café Müller“ ausgesucht hätte für eine erste Annäherung. Ich liebe das Stück, aber ich hätte für den Anfang ein Ensemblestück bevorzugt. Wir sind gewohnt in Oppositionen zu denken: ältere Generation versus junge Generation, Männer versus Frauen, Probenleiter versus Tänzer:innen, künstlerische Leitung versus Kollektiv. Was wir brauchen ist aber eine neue Energie des Zusammenhalts. Ich habe nicht das Gefühl, dass „Café Müller“ dringend verändert werden müsste. Ich bin nicht nach Wuppertal gekommen, um Anweisungen zu geben, um zu sagen, dieses oder jenes Kostüm muss weg oder die Stühle müssen anders stehen. Die Sache ist subtiler. Mich interessiert die Frage, wie Gesten, Schritte und Bewegungen, die eine Geschichte haben, von Körpern getanzt werden können, die in der Gegenwart leben. Das mag eine bescheidene Frage sein, aber sie ist bedeutsam. „Café Müller“ ist ein Stück Geschichte mit einer neuen Gegenwart und Zukunft. Das meine ich, wenn ich Labor sage. Rolf Borzik hat einen Transitraum entwickelt. Die leeren Stühle erinnern an einen Wartesaal. Er wird nicht zufällig eine Drehtür ausgewählt haben. Eine Drehtür ist eine Tür, die niemals zufällt. Mein Traum ist, dass „Café Müller“ nie endet. Ich würde gern eine 8-Stunden-Version entwickeln, die wie eine Ausstellung funktioniert, die man jederzeit betreten kann.
Pina Bausch war eine Künstlerin, die sich nicht scheute zu provozieren ...
Ja, sie war - auf ihre leise Art und Weise - radikal. Ihr Nachfolger kann nicht nur das halbe Risiko suchen oder halb-radikal sein. Dann wäre er kein guter Nachfolger. Er muss für die Kunst brennen. Und die Kunst selbst muss auch brennen. Mir geht immer dieses jiddische Lied durch den Kopf : „Es brennt, Brüder, ach es brennt.“
Brüssel, Berlin, Wuppertal 01/2023