„Was sich zurzeit zwischen den Ensemblemitgliedern des Tanztheater Wuppertal und mir, zwischen dem brutalistischen Mariendom von Neviges und uns, zwischen dem laut dröhnenden Orgelklang und unseren Körpern vollzieht, ist ein Sich-näher-Kommen. Wir erarbeiten die Freiheit, uns Dinge vorzustellen, die es nicht geben würde, würden all diese ‚Körper‘ sich nicht aufeinander stürzen: die Tänzerinnen und Tänzer des Tanztheater Wuppertal stürzen auf die Tänzerinnen und Tänzer, mit denen ich bereits gearbeitet habe, zu, sie stürzen aufeinander zu in ihrer jeweiligen Vorstellung von der Freiheit und der Kathedrale, und all diese individuellen Empfindungen vereinen sich in einer Choreographie, die wir gemeinsam entwerfen. Momentan habe ich in meinem Kopf ein grobes Schema. Die Tänzerinnen und Tänzer stürzen sich hinein, es wird größer und lebendiger. Es ‚nimmt Gestalt an‘. Ich habe das Gefühl, dass wir wirklich ‚all diese Menschen‘ sein müssen, mit all ihren geballten Empfindungen, damit das Stück entstehen kann.
Ich schreibe nichts auf, ich lasse unsere Stimmen klingen, die Glocken, die Stille. Die Stille. Sie war ursprünglich nicht wirklich geplant, diese Stille. Und doch - diese ausgefüllte Stille, die so viele Menschen dazu verleitet, die Türschwelle einer Kirche zu überschreiten, die Stille, die uns beim Lesen der Berichte von Opfern pädophiler Priester packt, die Stille von all den Schweigeminuten - noch immer überlegen wir, wie wir ein Stück dazu choreographieren können. Manchmal betritt man eine Kirche nur, um sich zurückzuziehen. Um sich zurückzuziehen oder um sich selbst zu finden? Die lärmende Stille der Orte verwandelt jedes Handeln in Choreographie. Ich erinnere mich an einen Film, den ich gesehen habe, den deutschen Film Die große Stille über die Kartäusermönche der Grande Chartreuse, eines in den Bergen gelegenen französischen Klosters. Die schweigend ausgeführten Tätigkeiten dieser Mönche bilden eine seltsame Choreographie. Tagelang wechseln sie kein einziges Wort, und dann sieht man sie lachen und in ihrer Soutane einen Schneehang hinunterrodeln.
Ein wenig Stille in Liberté Cathédrale - und viel Musik, viele Klänge, die uns durchdringen, durchbohren. Die Glocken, die Orgel und sogar der Gesang im nachhallenden Kirchenraum erfüllen die Körper und die Luft. Selbst die umliegenden Städte vibrieren: Die Kirchenfenster, die schlanken Steinsäulen, die Glocken ‚verlassen die Kirche‘. Manchmal muss man sich an die instinktive Idee klammern: dass das chaotische Glockengeläut ein großes Musikstück für Tanz ist. Dass es sich um eine Art zeitgenössische Versammlung handelt, die zur fortissimo gespielten Orgel choreographiert werden könnte. Dass Freiheit und Kathedrale eine Wechselbeziehung eingehen können.
Wir arbeiten an fünf Teilen. Das sind gewissermaßen Blöcke, die wir nicht miteinander verbinden.
Opus
Wir singen einstimmig a cappella den gesamten zweiten Satz von Beethovens Opus 111. Wir tanzen nicht zu dieser Musik, wir verleiben sie uns ein, wodurch sie nicht mehr wiederzuerkennen ist. Das Klavier trägt uns, aber nur die Erinnerung an die Sonate bringt uns zum Singen. Sie ist übrigens nicht singbar! In den wichtigsten Momenten dieses Singens und Sichbewegens, der Atem ist maximal gestreckt, ist der Tanz eng an die Stimme gebunden, sodass wir nur solange tanzen, wie wir gerade noch Luft haben. Das ist existenziell: tanzen, solange das Ausatmen noch nicht ganz zu Ende ist, tanzen, solange noch ein Ton aus unseren Körpern kommt, gemeinsam.
Geläut
Wir praktizieren eine Art Headbanging zum Glockengeläut, das die Klänge mehrerer Städte miteinander vermischt. Wir geraten in Trance, die uns nicht mehr loslässt. Der Klang der Glocken ist an der Grenze von Musik und Botschaft, von ohrenbetäubendem Lärm und Leidenschaft, Leidenschaft der Trauer, einer gefeierten Liebe, Leidenschaft des Chaos, das für mich im Geläut zum Ausdruck kommt, bei dem alle Glocken gleichzeitig in einer Kakophonie ertönen, die ich schon immer choreographieren wollte. Dieser Teil ist ein richtiger ‚Ausbruch‘, bei dem die Glockenschläge in ihrem unaufhaltsamen Wahn unsere Bewegungen hervorbrechen lassen und uns regelrecht sprengen: Wir brechen zu den Glockenschlägen aus, unendlich!!! Wir versuchen, sehr präzise zu den komplexen, unerbittlichen Rhythmen des Geläuts zu tanzen: Das Chaos geht einher mit einer Präzision, die uns in Atem hält.
For Whom the Bell Tolls
Ausgehend von dem Gedicht von John Donne ‚No man is an island, entire of itself‘ suchen wir die Intimität, die Nähe des beinahe ins Ohr geflüsterten Textes. Was kann jeder Tanzende aus diesen Zeilen machen? Wir suchen auch andere, profane, Quellen, vielleicht die Erinnerung an einen Popsong wie Fuck the Pain Away von Peaches, die Teil des Weges werden könnten, wie Boschs Gemälde vom Heiligen Antonius oder die Ungeheuer an romanischen Kapitellen, die ein Teil der Kunst- und Religionsgeschichte sind.
Stille
Wir haben zuerst begonnen Zeugenberichte von Missbrauchsopfern in der Kirche zu lesen. Der Schock hat Körperzustände produziert, die an unseren Lippen hängen, die versuchen keinen Lärm zu produzieren. In Erinnerung, im Gedenken, vereint mit den Stimmen, die wir nicht zu hören wissen.
Berühren
Zu dem von Phill Niblock orchestrierten Schwall an Orgelklängen entwickeln wir ein Kontaktstück, in dem nichts ohne Berührung vonstattengeht. Liegt es an der Corona-Zeit, in der Kontakte kriminalisiert und die Körper auf Abstand gehalten wurden, liegt es am ‚Noli me tangere‘ von Maria Magdalena? Oder liegt es an der Fußwaschung, oder an der Aufnahme von Aids-Kranken in einigen Kirchen, oder ganz einfach an der Freude, die Durchlässigkeit der Körper zu erproben? Es ist archaisch, wie so vieles in diesem Stück: Ich berühre dich und wir kommen in Bewegung.
Dieses Stück kann überall stattfinden. Unsere Architektur beruht auf unserer in Bewegung befindlichen Gemeinschaft. Liberté Cathédrale wird in einer Kirche in der Nähe von Wuppertal konzipiert. Aber wir übertragen etwas von diesem Mariendom, in dem die Proben stattfinden, zum Beispiel auf einen Industriestandort, in eine Oper, wo es sofort zu etwas anderem wird. Uns schwebt sogar eine Aufführung im Freien vor, wo sich das Stück eines Tages entfalten könnte, ‚Kirche ohne Kirche‘! Werden wir dort freier oder weniger frei sein?“
Liberté Cathédrale. Seit mehr als zwei Jahren arbeite ich an diesem Projekt und ich versuche eine Antwort auf die Frage zu finden: was bedeutet dieser Titel? In letzter Zeit beginne ich, eine für mich seltsame Antwort zu erahnen. Ich glaube, ich habe dieses Projekt für die Liebe gemacht. Die Liebe als absolute Offenheit, als symbolischer Ort, der Körper und Leben durchquert.
Ich widme dieses Stück bell hooks und ihrem Buch All about Love. Und mit den Zeilen von Emily Dickinson gehe ich in die Probe mit den Tänzer*innen: “Nicht wissend, wann der Morgen kommt,
Ich öffne alle Türen”
Boris Charmatz – verfasst während der Entstehungsphase des Stücks