Guten Tag!
Ich schreibe dieses Vorwort um die neue Spielzeit anzukündigen, die im September beginnt … doch in Gedanken bin ich noch immer ganz bei den 182 Tänzerinnen und Tänzern, die an unserem leidenschaftlichen Happening Wundertal auf der Sonnborner Straße mitgewirkt haben. Und auch bei den vielen Menschen, die an diesem Tag ein unglaubliches Publikum waren. DANKE!
Ich bin natürlich nach Wuppertal gekommen, um mit dem legendären Tanztheater Wuppertal Pina Bausch zu arbeiten, doch am 21. Mai ist mir so richtig bewusst geworden, dass ich auch gekommen bin, um Sie kennenzulernen, SIE. Um mit dieser unvergleichlichen Stadt gemeinsam zu tanzen und sie tanzen zu lassen, wie Pina Bausch, die uns in unseren Köpfen und in unseren mitunter geschundenen Seelen zum Tanzen brachte. Ich bin gekommen, damit wir einander begegnen: die außergewöhnlichen Profitänzer*innen, Tanzstudierenden, Gymnasiast*innen, Schauspieler*innen, und Laientänzer*innen zwischen 16 und 88, Tanzbesessene, die keine Anstrengung scheuten und bereit waren, ihre Körper in den Kampf zu werfen.
Wie geht es weiter? Seit einigen Monaten schon arbeiten wir an dem ersten neuen Stück des Tanztheater Wuppertal: Liberté Cathédrale. Wir proben im Mariendom in Neviges. Wir lassen die Orgel und die Stille der Kirche widerhallen, wir geraten in Trance beim Geläut der Glocken aus ganz Europa, wir singen Beethoven, mit angehaltenem Atem, in einem Atemzug vereint, und hängen an unseren Lippen. Im September heißen wir Sie in diesem 1969 errichteten, unglaublichen Bauwerk willkommen. Unmittelbar danach gehen wir mit dem Stück für mindestens zwei Spielzeiten auf Tournee, wobei ich glaube, dass es auf dem rohen Betonboden des Mariendoms eine ganz besondere Resonanz entfalten wird.
Im November zeigen wir Club Amour: Abend des Begehrens, der Sexualität, der symbolischen oder konkreten Nacktheit… Café Müller findet sich wieder mit zwei „nackten“ Stücken aus meinem Repertoire, die wir auf der Bühne des Opernhauses zeigen: Aatt enen tionon und herses, duo. Der Abend endet in einer Nacht der entfesselten Körper mit einem Club, der unserer so gut geprobten Kunst in keinster Weise entgegensteht, sondern im Gegenteil das Bedürfnis nach nicht verhandelbarer Freiheit einlöst.
Im Januar präsentieren wir eine Neueinstudierung von Nelken. Auch wenn das Stück ein Juwel der Kompanie ist, ist es doch heikel und schwer zu meistern: die unvergesslichen Rollen von Anne Martin, Lutz Förster, Dominique Mercy und anderen lassen uns nach wie vor nicht los. Ich glaube, dass sich die Kompanie danach sehnt, diesen Geist einer geeinten Truppe, den das Stück vermittelt, wiederzufinden: zwischen Kaskaden und Kinderspielen, gefährdeter Sicherheit und tanzenden Zikaden, die die Zeit vor dem aufziehenden Sturm nutzen.
Eine weitere umfassende Neuinterpretation eines Stücks von Pina Bausch wird Viktor sein, bei der das in voller Besetzung auftretende Ensemble durch eine Truppe alter Männer ergänzt wird und sich aus einem Erdgrab eine Choreographie der Körper und der Affekte entwickelt.
Parallel dazu zeigen wir in Istanbul Café Müller, in Mulhouse Vollmond und in Paris ´Sweet Mambo`. Club Amour wird nach Valenciennes, Amiens und Berlin gehen, Nelken nach London und Luxemburg, Liberté Cathédrale nach Lyon, Lille und Paris. Das Programm ist prall gefüllt, aber die Kompanie ist robust und großartig; ihre Geschichte, die sich in der Gegenwart fortsetzt, macht sie stark.
Und ja, eins ist noch wichtig: Terrain ist die Produktionsstruktur, die ich in Frankreich gegründet habe und mit der ich meine Arbeit entwickle, insbesondere in der Region Hauts-de-France. Tanztheater Wuppertal und Terrain arbeiten während der gesamten Spielzeit zusammen, wie wir es bei Wundertal erleben konnten. So kann ich zwischen den beiden Regionen, den beiden Ländern und den beiden künstlerischen Teams eine starke Partnerschaft aufbauen. Im Kalender der Spielzeit stehen auch die Daten der Tourneen meines Repertoires, es ist also ein gemeinsames künstlerisches Projekt, das von diesen beiden sich gegenseitig ergänzenden Strukturen getragen und das Programm prägen wird. Tanztheater Wuppertal, Pina Bausch, Boris Charmatz, Terrain: Wir schaffen einen neuen „Grund“, einen neuen „Tanzgrund“, der uns alle über die Grenzen des Vernünftigen hinaus tanzen lässt.
Das Tanztheater Wuppertal feiert dieses Jahr einen runden Geburtstag: 50 Jahre! Wir werden dieses Ereignis ausgiebig feiern – auf unsere Art! Die Kerzen werden wir sehr langsam, aber mit viel Emotion ausblasen. Im Laufe der Spielzeit werden diese Aufführungen durch zusätzliche Veranstaltungen ergänzt, die sich mit der Zeit herauskristallisieren. Den Anfang aber bildet im September eine existenziell bedeutsame Choreographie in einer im brutalistischen Stil errichteten Kirche. ICH FREUE MICH AUF SIE!
Boris Charmatz, Juni 2023