Im Revolutionsjahr 1968 beginnt die Tänzerin und Choreographin Pina Bausch (1940-2009) eigene Stücke zu entwickeln. Als sie 1973 als Direktorin nach Wuppertal kommt, benennt sie das Wuppertaler Ballett um in „Tanztheater“. Ihre Idee, Tanz und Theater zu verbinden, revolutioniert den Tanz und macht sie zur Ikone eines neuen Ausdruckstils. Für ihr Werk wird sie mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Das Repertoire der Compagnie ist weltweit bekannt, ihre Stücke werden bis heute auf Tourneen in der ganzen Welt gezeigt. Das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch hat Tanzgeschichte geschrieben. Im Jahr 2023 feiert es sein 50-jähriges Bestehen.
Repertoire beginnt mit der Silbe „Re“. Sie steht für Wiederholung, für Wiederkehr und Rückkehr. Wir wissen heute, dass ein kulturelles Gedächtnis beides braucht, ein Archiv, in dem Geschichte materiell aufbewahrt wird und die periodische Re-Inszenierung der Bestände. Ohne Anstöße von außen kommt keine lebendige Erinnerung zustande. Für das Archiv und die Stücke von Pina Bausch bedeutet das: Was hier dauerhaft gespeichert wird, muss aufgeführt, neueinstudiert, ausgestellt, kritisch kommentiert und mit der Gegenwart abgeglichen werden.
Seit der Spielzeit 2022/2023 widmet sich der französische Tänzer und Choreograph Boris Charmatz (*1973) dieser Aufgabe. Mit seiner Intendanz in Wuppertal schlägt er ein neues Kapitel auf, indem er an die Spitze einer Compagnie tritt, die für den Personalstil Pina Bauschs steht und den Namen der Künstlerin weiterhin im Titel führt. Diese besondere Hybridsituation ermöglicht ihm, die vielfältigen Aspekte seines Schaffens zusammenzuführen: Seinen kreativen Umgang mit dem Tanzerbe der Moderne und Postmoderne, seinen Glauben an die Kraft von Kollektiven und seine Überlegungen zum Körper als Medium der Erinnerung. Für die Neueinstudierung von Café Müller (1978/2023) entwickelt Boris Charmatz drei neue Besetzungen. So ermöglicht er 18 jungen Tänzer*innen, ein wichtiges Stück Tanzgeschichte für sich zu entdecken und seine archaischen Figuren in die Gegenwart zu führen. „Am liebsten wäre mir, wenn in Zukunft alle „Café Müller“ tanzen würden. Das gesamte Tanztheater, das Publikum und ich selbst vielleicht auch irgendwann.“
Wie können Bewegungen, die eine Geschichte haben, von Körpern, die in der Gegenwart leben, aufgeführt werden? Warum tanzen wir? Was ist unser Tanzgrund? „In einer Welt, die sich unablässig verändert, in einer Gesellschaft, deren Teile auseinanderdriften, müssen wir uns neu ‚grounden‘“, sagt Boris Charmatz. Mit seiner französischen Association Terrain arbeitet er an einer Vision von einem Tanzhaus ohne Dach und Mauern. Menschliche Körper bilden eine mobile Architektur auf grünem Grund. „Der Weg in eine behütete Vergangenheit erweist sich als Fiktion“, notierte der französische Philosoph Bruno Latour. „Wo können wir landen?“ heißt eines seiner letzten Bücher, eine Art terrestrisches Manifest. Bestätigt von Latours politischen Leidenschaften, plädiert Boris Charmatz eindringlich dafür, eine neue Beziehung zur Erde zu entwickeln und unser Leben an den veränderten ökologischen Bedingungen auszurichten.
Mit dem mehrtägigen Programm WUNDERTAL (2023) und dem Tanzmarathon Wundertal/Sonnborner Straße gelingt ihm der spektakuläre Auftakt zu einem deutsch-französischen Zukunftsprojekt, das den direkten Dialog mit der Stadt, ihren Bewohner*innen und der urbanen Landschaft sucht. Mit Café Müller und WUNDERTAL legt Boris Charmatz die Fundamente für die Spielzeit 2023-24, in der Tanztheater Wuppertal und Terrain gemeinsam neue Kreationen entwickeln. Den Anfang macht das langerwartete Ensemblestück Liberté Cathédrale (2023). Die Uraufführung findet im Mariendom von Neviges statt. Die einzigartige Beton-Faltwerk-Konstruktion gilt als das Hauptwerk des Architekten und Pritzker-Preisträgers Gottfried Böhm (1920-2021).
Marietta Piekenbrock