In der Art eines choreografischen Flipbooks wird das Buch Merce Cunningham, un demi-siècle de danse zu einer fotografischen Partitur für dieses Stück. Die in wenigen Tagen erarbeitete Performance trägt je nach den einbezogenen Akteuren einen anderen Titel: Roman Photo (Studierende, Laien- bzw. Nichttänzer*innen), Flip book (professionelle Tänzer*innen), 50 ans de danse (ehemalige Interpret*innen der Merce Cunningham Dance Company).
Das Buch Merce Cunningham, un demi-siècle de danse [1] beschreibt den ganzen Cunningham: Fotografien von jedem Stück und von Merce selbst, ab seinem fünften Lebensjahr. Beim Lesen des Buches kam mir der Gedanke, dass all diese Bilder nicht nur die von ihm gezeichneten Projekte nahezu vollständig wiedergeben, sondern in sich selbst eine Choreografie bilden, ähnlich den Prozessen, die Cunningham in seiner kreativen Arbeit umsetzte: Der Tanz findet zwischen zwei Haltungen, zwei Positionen statt. Ich nehme also an, dass es möglich ist, aus dieser Bilderpartitur ein Stück zu entwickeln, das von Anfang bis Ende performt wird.
Es würde sich einerseits um ein reines „Fake-Cunningham“-Stück handeln, aber andererseits meine ich, dass, sollte uns das gelingen, im Gegenteil tatsächlich ein Cunningham-Stück, ein Meta-Cunningham-Event entstehen könnte, das sein ganzes Leben und Werk umfasste.
Ich betrachte diese Erfahrung als einen festen Bestandteil unserer Recherche, unseres spezifischen Interesses für Archive, Geschichte und Partituren, das hier seine bewegte aufwühlende Dimension finden könnte: die gesamte Geschichte eines Buch gewordenen Lebenswerks, das seinerseits in ein von einer Handvoll Tänzerinnen und Tänzern erarbeitetes Stück verwandelt wird.
Boris Charmatz
Das neue Projekt des Choreografen Boris Charmatz hat seinen Ursprung in dem Buch Merce Cunningham, un demi-siècle de danse – eine Fotosammlung, die die Entwicklung dieses Monuments der Tanzgeschichte nachzeichnet. Diese Choreografie ist ein Schnelldurchlauf durch seine einhundertfünfzig Stücke, sie greift die Bewegungen auf, die ihn zusammen mit John Cage zum Vorreiter der Zufalls- und Kombinationsspiele auf choreografischem Gebiet machten.
Für Boris Charmatz, den Initiator des Schulprojekts Bocal und Leiter des Musée de la danse ist das kulturelle Erbe vor allem ein lebendiges Material, das sich für Umdeutungen und wilde Neuaneignungen eignet. In der Art einer „Readymade“-Choreografie griff er sich diese Fotografien und stellte sie zu einem riesigen Flipbook zusammen, das die Mechanismen der Reproduktion von Gesten hinterfragt.
Tanz nach dem Baukastenprinzip, belebte Fotokopie, rasante Performance – 50 ans de danse ist ein nicht einzuordnendes und vielseitiges Stück. Es begann mit Kunststudierenden, die Wiederaufnahme erfolgte mit professionellen Tänzerinnen und Tänzern und danach mit Laientänzerinnen und -tänzern, dieses Mal nun gibt es eine Begegnung mit ehemaligen Interpretinnen und Interpreten Cunninghams. „Mir gefällt die Vorstellung sehr, dass von diesen tausenden Gesten einige von ihnen selbst stammen und dass sie sich selbst neu interpretieren werden“, so Boris Charmatz. Für diese Wiederbegegnungen verleihen die Tänzerinnen und Tänzer den starren Gesten neues Leben, schließen Lücken und bieten uns eine Variation des Motivs, das der üblichen Hommage entgegengesetzt ist. Ein verspielter und turbulenter, echt-falscher Cunningham.
Gilles Amalvi im Programm des Festival d’Automne, 2009/2010
Mit Dank an: LiFE (Saint-Nazaire), HZT (Berlin), Centre de développement chorégraphique (Toulouse) und Cécile Tonizzo