Nach 50 ans de danse – einem hybriden Werk, angesiedelt zwischen dem Formen-ABC von Merce Cunningham und einem Kaleidoskop aus wiederverwendeten Gesten – stellt Boris Charmatz ein neues, bis an die Grenzen gehendes choreografisches Objekt vor: ein perzeptives Hologramm für 24 Tänzerinnen und Tänzer und 25 Bewegungen. Levée als eine Aufhebung der Zeit, der Konzentration der Sinne, der Regeln, die die Wahrnehmung steuern; eine Trübung des Blicks, der auf das Zirkulieren, die Verwandlung, die Aneignung von Gesten gerichtet ist, die innerhalb einer Gruppe weitergegeben werden. In einem hypnotischen Reigen, einem Mosaik gleichzeitiger Aktionen, die von Körper zu Körper gleiten, versuchen die Tänzerinnen und Tänzer ein Trugbild entstehen zu lassen: einen unterschwelligen Eindruck, der sich aus einer kontinuierlichen Verkettung von Zuständen ergibt. Es setzt sich zusammen, entknotet sich, verknotet sich, verdichtet sich, häuft sich an, bildet Kerne, Linien, Falten – lebendige Materie, einzeln und miteinander, in der jede Tänzerin und jeder Tänzer „beweglich im beweglichen Element“ ist.
Doch wie funktioniert das? Wie entfaltet es sich, ohne zu implodieren? Bewegt durch ein Vakuum, angetrieben von der Diskrepanz zwischen der Anzahl der Handlungen und der der Tänzerinnen und Tänzer entsteht die Komposition ganz von selbst, setzt sich neu zusammen und erweckt so den Eindruck einer ständigen Überblendung. Diese der Dauer ausgesetzte Struktur ist von variabler Geometrie, sie baut sich unentwegt auf und löst sich wieder auf, mobilisiert eine schwebende Aufmerksamkeit: ein Chorensemble, das mit einem einzigen Blick betrachtet werden kann, und eine Choreografie, die sich aus einer Vielzahl von ineinandergreifenden, sich drehenden und sich wiederholenden Ereignissen zusammensetzt, ein Tanz, der einfach stattfindet, und ein komplexer, in ständiger Schwingung begriffener Mechanismus. Mit Levée des conflits erfindet Boris Charmatz eine „Tanzlücke“, die den Blick absorbiert. Ein Tanz-Palindrom, das in alle Richtungen gelesen werden kann. Ein choreografischer Kanon auf der Suche nach dem Bild einer Utopie.
Gilles Amalvi
Der Film Levée wurde nach Levée des conflits gedreht.
Koproduktion: Théâtre National de Bretagne à Rennes, Théâtre de la Ville – Paris / Festival d’Automne à Paris, Manifesta 8 (Murcia, Cartagena – Spanien), ERSTE Foundation mit der Unterstützung des Teatro Maria Matos / Lissabon, Chassé Theater / Breda, Kunstenfestivaldesarts / Brüssel
Dieses Projekt wird gefördert vom Institut français und der Stadt Rennes.
Mit Dank an: Marlène Monteiro-Freitas, Dominique Jégou, Katja Fleig, Margot Joncheray, Carlos Maria Romero, die HZT-Studierenden (Berlin, Jahrgang 2010), die Residentinnen und Residenten des Pavillon, laboratoire de création du Palais de Tokyo, sowie all diejenigen, die in den verschiedenen Phasen unserer Arbeit mitgewirkt haben.
In besonderer Erinnerung an Vincent Druguet und Odile Duboc.