Wir essen im Liegen wir schlafen im Stehen wir verdauen Informationen wir tanzen mit vollem Mund wir singen beim Kauen wir kauen beim Gehen wir tanzen beim Denken beim Singen beim Schlucken wir bewegen uns aus dem Mund den Lippen den Fingern die wir ablecken den Füßen die das Essen auf dem Boden berühren der Tanz ist der Gaumen der Tanz ist die Zähne der Tanz ist die Zunge wir entfernen den Tisch die Stühle die Tischdecke wir schaffen das Ritual der Mahlzeit ab wir stellen uns eine Art Mahlzeit in Bewegung vor wir essen alles wir essen von allem die ganze Zeit lange Kette von Essen das von Arm zu Arm gereicht wird das Essen verschwindet in den Körpern die Ausstattung wird unsichtbar die Choreografie der Menschen wird zur Choreografie der Lebensmittel die den Raum und dann den Körper von innen durchdringen das Wesentliche steckt in der Kehle wir wollen nicht ersticken wir treten in Hungerstreik unser Körper wird zum Streikobjekt wir schlucken die Botschaft wir schlucken das Reale wir verdauen die Konflikte ein Kind isst und tanzt dabei.
Boris Charmatz, Notizen (Auszug)
„Boris Charmatz ist Choreograf und Leiter des Musée de la danse, einer hybriden Institution, die Formate verdaut und Körper freisetzt; Boris Charmatz unterwirft den Tanz formalen Zwängen, die das Feld seiner Möglichkeiten neu definieren: ein potenziell endloser Kanon von Gesten in Levée des conflits, leblose Kinderkörper, die in enfant von Erwachsenen belebt werden usw. Die Bühne dient ihm als Entwurf, er wirft Konzepte und organische Konzentrate auf sie, um die chemischen Reaktionen, die Intensität und die Spannungen zu beobachten, die sich aus ihrem Aufeinandertreffen ergeben. Mit manger wird der Schwerpunkt der Bewegung verlagert: Wie kann man den Körper bewegen, wenn die Bewegung nicht von den Augen und den Gliedmaßen ausgeht, sondern vom Mund? Wie kann man dieses Loch in einen eigenständigen Wahrnehmungsrahmen verwandeln? Der Mund als Umschlagplatz, in dem sich Nahrung, Stimme, Atem, Wörter und Speichel miteinander vermischen, der Mund als Schnittstelle, in dem sich Innen und Außen, das Ich und das Andere begegnen, einander abschmecken, taxieren, vermischen und absorbieren. Mit der Auswahl dieser Metapher als choreografischen Motor steckt Boris Charmatz ein allgemeines Feld der Oralität ab: Die physische Materie wird zerkaut und heruntergeschluckt und wird so zu einer überschäumenden Mixtur. Es wird gegessen, gesungen, verkostet und miteinander vermischt, es strahlt von Mund zu Mund, bis der gesamte Raum eingenommen ist. In dieser ständigen Bewegung der Nahrungsaufnahme entstehen gekaute Melodien, Bilder aus Fleisch, Skulpturen aus Stimme, Nahrung und Haut, die einen kollektiven und sinnlichen Horizont abstecken. An der Grenze von beweglicher Installation und unbestimmtem Klangobjekt ist manger eine ‚verschluckte Realität‘, eine heruntergewürgte Utopie: eine langsame Verdauung der Welt.“
Gilles Amalvi, Auszug aus dem Programm des Festival d’Automne à Paris und des Théâtre de la Ville, Paris
Koproduktion: Ruhrtriennale – International Festival of the Arts, Théâtre National de Bretagne-Rennes, Théâtre de la Ville / Festival d’Automne à Paris, steirischer herbst – Graz, Holland Festival – Amsterdam, Kunstenfestivaldesarts – Brüssel, Künstlerhaus Mousonturm – Frankfurt am Main
Mit Dank an: Marlène Saldana, Alexandra Vincens, Imane Alguimaret, Marguerite Chassé, Noé Couderc, Lune Guidoni, Hypolite Tanguy, die Studierenden von P.A.R.T.S. (Brüssel) und des Masterstudiengangs Performance Studies (Universität Hamburg)