Für dieses Stück stelle ich mir einen choreografischen Wald vor, in dem von keiner Tänzerin und keinem Tänzer jemals eine Geste wiederholt wird. 10000 gestes, die nur ein einziges Mal zu sehen sind und sofort wieder verschwinden, kaum, dass sie ausgeführt wurden, wie eine Ode an die Vergänglichkeit der Tanzkunst. Diese Flut von Bewegungen, die ein Data Projekt sein könnte, das von Listen digitalisierter Parameter erzeugt wird, entsteht stattdessen handwerklich, direkt aus dem Körper der Interpreten heraus, auf absolut subjektive Weise. Der visuellen Hypnose der Bewegungsbulimie entspricht eine meditative, ja melancholische Seite: das „Geschenk“ der Bewegungen, die zum symbolischen Verschwinden verurteilt sind.
Diese Idee kam mir, als ich mir die im MoMA getanzte „Dauer“-Version von Levée des conflits anschaute: In Levée bauen wir eine Skulptur, die auf Unbeweglichkeit abzielt und dennoch von einer Vielzahl von Tänzerinnen und Tänzern belebt wird, die durch ihre unablässige Transmission eine permanente Präsenz der Bewegung aufrechterhält. In 10000 gestes werden dagegen der Blick und die Gedanken des Publikums durch die auf die Spitze getriebene Flüchtigkeit erzeugt. Das Chaos der Verausgabung ist so perfekt, dass es an Bewegungslosigkeit grenzt.
In Fortsetzung der Projekte des Musée de la danse stellt 10000 gestes ein choreografisches Anti-Museum zur Erforschung der Mittel dar, mit denen man sich den in der Arbeit der Tänzerinnen und Tänzer wirkenden Instinkten und Strategien der Erhaltung entziehen kann. Es geht darum, die Möglichkeiten herauszufinden, die bewirken, dass eine Geste niemals von einer anderen vollendet wird und dass, wenn 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 25 Tänzerinnen und Tänzer in Kontakt kommen, jede und jeder trotz allem eine sich von den anderen unterscheidende Geste ausführt und dabei jede symmetrische Bewegung ausschließt: In diesem Stück ist es unmöglich, sich die Hand zu geben. Die so erzeugte Kollektion ist gleichzeitig eine Anti-Kollektion, denn kein Choreograf, der diesen Namen verdient, würde es wagen, 10000 Gesten in seine Konzeption aufzunehmen; dieses Ensemble lässt sich nicht anders als durch die von ihm selbst erzeugte Idee erfassen.
Boris Charmatz
Koproduktion: Volksbühne Berlin, Manchester International Festival (MIF), Théâtre National de Bretagne-Rennes, Festival d’Automne à Paris, Chaillot – Théâtre national de la Danse (Paris), Wiener Festwochen, Sadler’s Wells London, Taipei Performing Arts Center
Mit Dank an: Amélie-Anne Chapelain, Julie Cunningham, Mani Mungai, Jolie Ngemi, Sandra Neuveut, Marlène Saldana, Le Triangle – cité de la danse, Charleroi Danses – Centre chorégraphique de la Fédération Wallonie-Bruxelles, P.A.R.T.S., Archivio Alighiero Boetti and Fondazione Alighiero e Boetti; Chiara Oliveri Bertola / Castello di Rivoli Museo d’Arte Contemporanea