Choreografie: Boris

Charmatz

La danseuse malade

Weiß nicht, ob ich Hijikata mag. Glaube an den Wunsch, seine Texte zu tragen, die ihrerseits seinen Tanz tragen. Sein Tanz, sein Butoh, seine Emotionen sind schon in seinem lahmenden Körper zu lesen, die Gefühle der Niederlage, „der Kopf dieses Säuglings auf dem Grund meines Schlamms“, die er zu Papier bringt. Was uns vielleicht radikal jede Notwendigkeit erspart, seinen Tanz zu machen, ihn nachzumachen.

„Bei aller Freude, seinen Kopf und seine vier Gliedmaßen zu haben, sollte man sich dennoch sagen, dass man lieber bewegungsunfähig wäre, dass man lieber ein für alle Mal bewegungsunfähig geboren wäre; denn nur, wenn einem dieser Wunsch kommt, ist der erste Schritt im Tanz endlich getan.“

Es ist ja keine Schande, zu versuchen, den Butoh erneut zu tanzen. (Es gibt sicher noch einen Butoh zu erfinden: Rebutoh sollte der neue Butoh sein.)

Meine Idee ist jedoch, dass wir keinen Butoh aus diesen halluzinierenden Texten ableiten werden, denn sie tragen den Butoh bereits in sich. Das Stroh, der Schlamm, die Missbildung, die Eingeweide, alles ist da. Die Arbeit wird von unten, von der Seite stattfinden. Wir exhumieren die Gedankenwelt eines großen Künstlers, damit er uns ganz unserem eigenen Wahnsinn überlässt.

Möge uns die Kraft seiner Schriften, die sozusagen zum Lesen gegeben werden müssen, in der Art, sie zu tragen, freie Hand lassen. Lassen wir uns nicht von Hijikata inspirieren, kreieren wir kein Stück, das sich aus seinen Schriften herleitet, machen wir nicht wirklich eine „Inszenierung“. Wir halten ein Spruchband mit ausgestreckten Armen, aber sie laufen Gefahr, auf uns herabzusinken, ihren Schmutz zu verbreiten. Das ist vielleicht der Grund, warum ich nicht sicher bin, ob ich Hijikata mögen kann: Er sieht schmutzig, tot, kraftlos, jungfräulich und obszön aus.

Boris Charmatz

 

„Von fulminanten Nacktbildern umzingelt, wird der Schöpfer des Tanzes wütend ausgemergelt. Als er seine abgemagerten Rippen in den Abwasserkanal taucht, wird meine Brust mit dem Treibgut unserer Epoche vollgestopft. Um zu verhindern, dass sie rostet, habe ich sie reichlich eingeölt, bevor ich mich unendliche Tage lang an meine Arbeit mache. Weit weg von dieser Brust und ihrer schmerzhaften Genesung gönne ich mir Sonnenbäder in den Theatern. In einer bewachten Leichenhalle im Inneren von Regalen schleicht sich der Blick ein, der sich auf die jetzige Generation richtet, deren Seele keinesfalls allein von ihrem Erbe leben kann. Ich durchstreife sorgfältig Tokio, wo diese Generation, die mit Händen die Augen entworfen hat, nicht unbedingt ausgestorben ist, und stoße schließlich auf das Material. Ich musste es nur noch unter einer Jugend einsammeln, die damit beschäftigt war, hier in einer Galvanisierungswerkstatt zu schrubben und dort in einer Garage zu hocken. Ich betrachte die Hände. Grobe Partikel entweichen ihnen in einer Bewegung. Die Wirbelsäule ist leicht vornüber gebeugt. Ein Tanz stürzt den Hang hinunter. Für einen unglücklichen Blick kann man sich in Gelatine verwandelt sehen. Heiße Köpfe. Die von einem kalten Knopf in Zaum gehaltene Rache hat die Stirn ein klein wenig gesenkt; das Material muss zuerst ein Liebhaber sein. Ich nähere mich. Der Geruch stellt zwischen den Burschen und mir ein fast asketisches Gleichgewicht her; generell geben all diese Körper, die wie die Streben eines Regenschirms extrem gespannt sind, um das, was herabfällt, abzuwehren, all diese schiefen, zerbrechlichen und vom Opfer steifen Körper nicht etwa den verführerischen Figuren den Vorzug, sondern auf vielfältige Weise den Linien, die von ihrer Umgebung der Zwanziger quasi gestempelt sind. In dem riesigen Tokio gibt es Leiber zum Bersten.“

Tatsumi Hijikata, Auszug aus Matériau du dedans

 

Die Performance mit dem Helm wurde von Gwendoline Robin konzipiert und übertragen.

La danseuse malade La danseuse malade La danseuse

Choreografie

Konzeption Bühnenbild

Alexandre Diaz

Dominique Bernard

Konstruktion Bühnenbild

Artefact

Licht

Yves Godin

Lichtregie / Video

Eric Houllier

Ton

Olivier Renouf

Tonregie

Jacques Marcuse

Françoise Meslé

Inspizienz

Frédéric Vannieuwenhuyse

Leitung der Produktion

Sandra Neuveut

Martina Hochmuth

Amélie-Anne Chapelain

Produktion

Association edna; Musée de la danse / Centre Chorégraphique National de Rennes et de Bretagne – Leitung: Boris Charmatz. Gefördert durch das Ministère de la Culture et de la Communication (Direction Régionale des Affaires Culturelles / Bretagne), die Stadt Rennes, den Regionalrat der Bretagne und den Generalrat von Ille-et-Vilaine.
 Das Institut français unterstützt regelmäßig die internationalen Tourneen des Musée de la danse.

Text

Tatsumi Hijikata

Uraufführung

24. Sep 2008, Cndc, Angers

Dauer

ca. 1h 10min

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Besetzung

Interpretation
Jeanne Balibar

Koproduktion: Das Théâtre de la Ville, Paris / Festival d’automne à Paris, gemeinsame Koproduktion des CNDC Centre national de danse contemporaine Angers und des Nouveau Théâtre d’Angers centre dramatique national des Pays de la Loire, im Rahmen ihrer Residenzprogramme für Tanz/Theater, La Ménagerie de Verre Paris (accueil studio), deSingel Anvers

 

Mit freundlicher Genehmigung des Buto Sôzô Shigen, Tokio.

 

Mit Unterstützung durch die ADC Genf – Schweiz, Dampfzentrale Bern – Schweiz, Gessnerallee Zürich – Schweiz, Tanzquartier Wien – Österreich und Cultures France.

 

Mit Dank an: Marie-Thérèse Allier, Frédéric Bélier-Garcia, Lalou Benamirouche, Patrice Blais und Raoul Demans, Patrick De Vos, Myriam De Clopper, Marie Collin, Emmanuelle Huynh und das gesamte Team des CNDC Angers, Sima Khatami, Isabelle Launay, Aldo Lee, Frédéric Lormeaux, Barbara Manzetti, M. Marlhin (Gesellschaft DPI), Takashi Morishita, Jean-Philippe Varin, Gérard Violette und Angèle Le Grand.